Können computerimplementierte Diagnoseverfahren ohne Messschritte in Europa patentiert werden?

Lange galt Diagnosesoftware, die vorhandene physiologische Daten auswertet, als technisch im Sinne von Artikel 52(1) EPÜ. T 1741/22 stellt diese Praxis infrage – hat sich die Technizitätshürde verschoben, und was bedeutet das für künftige Anspruchsformulierungen?

Lange Zeit gingen Anmelder davon aus, dass medizinische Diagnosesoftware, die bereits erhobene physiologische Daten analysiert und diagnostisch relevante Ergebnisse liefert, die Technizitätsanforderungen nach Artikel 52 (1) EPÜ erfüllt. Diese Auffassung wurde durch die Rechtsprechung, insbesondere die Entscheidung T 2681/16, bestätigt und fand Eingang in die Prüfungsrichtlinien des Europäischen Patentamts (EPA).

Mit der Entscheidung T 1741/22 weicht die Rechtsprechung jedoch spürbar von diesen bisherigen Maßstäben ab. Sie wirft die Frage auf, ob die Anforderungen an die Technizität tatsächlich durch die Entscheidung wurden – und was dies künftig für die Formulierung und Ausarbeitung von Patentanmeldungen in diesem Bereich bedeutet. Um die Abweichung der Entscheidung von der bisherigen Praxis deutlich zu machen, sollen zunächst die Anforderungen an die Technizität computerimplementierter Erfindungen kurz skizziert werden, wie sie von der Großen Beschwerdekammer in G 1/19 definiert wurden.

Was sagt G 1/19 zum technischen Charakter?

Die Große Beschwerdekammer stellte in G 1/19 (März 2021) fest, dass computerimplementierte Erfindungen im Wesentlichen auf drei Wegen Technizität erlangen können:

  • Durch Interaktion mit der physischen Welt auf der Input-Ebene, z. B. durch Erfassung von Messdaten.
  • Durch Interaktion mit der physischen Welt auf der Output-Ebene, beispielsweise durch die Steuerung eines Geräts oder Nutzung der Ausgabe für technische Zwecke.
  • Durch Anpassung der internen Arbeitsweise eines Computers.

Laut G1/19 Randnummer 88 ist ein direkter Bezug zur externen physischen Realität jedoch nicht zwingend in jedem Fall erforderlich, um die Technizität zu begründen. : Vielmehr können auch potenzielle technische Wirkungen die nötige Technizität verleihen: “[…] there are many examples in which potential technical effects - which may be distinguished from direct technical effects on physical reality - have been considered in the course of the technicality / inventive step analysis […]. While a direct link with physical reality […] is in most cases sufficient to establish technicality, it cannot be a necessary condition, if only because the notion of technicality needs to remain open“. 

Beispielsweise kann ein Patentanspruch auf eine Defibrillationsimpulssequenz ein Beispiel für einen Technizität begründenden potentiellen technischen Effekt darstellen. In der Entscheidung T 533/09 wurden Ansprüche auf eine Defibrillationsimpulsfolge (siehe Patent EP 1 284 788 B1) für zulässig erklärt. In G1/19, Randnr. 101, teilte die Große Beschwerdekammer uneingeschränkt die in T 533/09 geäußerte Auffassung, dass eine unmittelbarer, physischer Effekt nach dem EPÜ nicht erforderlich ist: „The Enlarged Board […] fully supports the view expressed in T 533/09 […] that a tangible effect is not a requirement under the EPC. […]““.Die im Patent EP 1 284 788 B1 beanspruchten Impulssequenzen wurden von der Großen Beschwerdekammer in Bezug gesetzt zu Steuersignalen, die bei bestimmungsgemäßer Verwendung potenzielle weitere technische Wirkungen haben können. 

Zusammenfassend stellte G1/19 klar, dass die Feststellung des technischen Charakters aus einer direkten Verbindung zur physikalischen Welt resultieren kann, entweder auf der Input- oder Output-ebene oder durch Anpassungen der internen Funktionsweise eines Computers. Eine solche direkte Verbindung ist jedoch nicht in allen Fällen eine zwingende Voraussetzung zur Erlangung der erforderlichen Technizität. Es kann beispielsweise bereits genügen, wenn die Ausgabedaten bei bestimmungsgemäßer Verwendung technische Wirkungen entfalten.

Wie sah der rechtliche Rahmen für Diagnosesoftware vor T 1741/22 aus? 

Bei der Beanspruchung computerimplementierter Diagnoseverfahren wird oft auf die explizite Nennung eines Messschritts verzichtet, um nicht unter das Patentierungsverbot nach Art. 53(c) EPÜ für Diagnoseverfahren „am menschlichen Körper“ zu fallen. Stattdessen konzentrieren sich Ansprüche auf die Analyse bereits erfasster Daten und die Ausgabe diagnostisch relevanter Informationen. Die Ausgabe wird in der Regel einem Benutzer präsentiert, damit dieser eine diagnostische Entscheidung treffen kann, wird jedoch in der Regel nicht zur direkten Steuerung eines Geräts verwendet. 

Seit 2019 bis einschließlich zu ihrer aktuellen Fassung 2025 erkennen die EPA-Prüfungsrichtlinien (G-II, 3.3), in Übereinstimmung mit G1/19 vom März 2021, an, dass auch mathematische Verfahren technisch sein können, wenn sie von einem automatisierten System auf physiologische Daten zu medizinischen Diagnosezwecken angewendet werden. Auch in der Entscheidung T 2681/16 (März 2022) nahm die zuständige Kammer eine positive Haltung zur Gewährbarkeit solcher Ansprüche ein. Zwar verneinte sie die Technizität der reinen Verarbeitungsschritte der Patientendaten, also des zugrunde liegenden Algorithmus als solchen, erkannte jedoch die Technizität des Anspruchs insgesamt aufgrund des vom Algorithmus erzeugten und ausgegebenen Ergebnisses an. Konkret betraf der Anspruch ein System, das das Risiko einer Unter- oder Überzuckerung berechnete und entsprechende Risikowerte ausgab. Die Kammer stellte fest, dass diese Ausgabe die Diabetesbehandlung und -therapieplanung unterstützte und damit dem Anspruch als Ganzem technische Eigenschaften verlieh. Die technische Natur ergab sich hier also nicht aus der Art der Datenverarbeitung selbst oder aus einer expliziten Interaktion mit der physischen Welt, sondern aus der therapeutischen Relevanz des ausgegebenen Ergebnisses: „providing an overall measure of the glucose variability […] and a prediction of glycemic events” ” wurden von der Kammer als technisches Problem angesehen.

Inwiefern stellt T 1741/22 den bisherigen rechtlichen Rahmen in Frage?

T 1741/22 (Juli 2024) stellt diese etablierte Linie direkt in Frage. Gegenstand der Entscheidung war ein Verfahren und ein System zur Analyse bereits erhobener kontinuierlicher Glukosemessdaten (CGM-Daten) , wobei im Zuge der Analyse Minimal- und Maximalwerte bestimmt wurden, die dann über eine Anzeige ausgegeben wurden. Der Anmelder argumentierte, dass die Ausgabe solcher Werte einen diagnostischen Nutzen habe, insbesondere für die Beurteilung der glykämischen Variabilität.

Die zuständige Kammer wies dieses Argument zurück und stellte fest, dass die Berechnung und Anzeige von Minimal- und Maximalwerten aus bereits vorhandenen Daten lediglich ein mathematisches Verfahren darstelle und daher nicht als technisch anzusehen sei. Sie betonte, dass die Anspruchsformulierung keinerlei Interaktion mit der physikalischen Welt beinhalte und somit gemäß G 1/19, Randnummer 99, weder die Voraussetzungen für eine tatsächliche noch für eine indirekte „Messung“ erfülle. Nach Auffassung der Kammer reichte die diagnostische Relevanz des Ergebnisses nicht aus, um den technischen Charakter des Verfahrens zu begründen: “[..] generating (and displaying) further data [creatd] by an evaluation or interpretation of these measurements […] amounts to "measurements" generated merely by a cognitive or mathematical exercise that is inherently non-technical..” 

Diese Fokussierung auf die Interaktion mit der physikalischen Welt auf der Eingabeebene stellt eine Herausforderung für den oben genannten rechtlichen Rahmen dar, da nach G 1/19, Gründe 88, 100 und 101, ein Verfahren, dem sowohl auf der Eingabe- als auch auf der Ausgabeebene die Interaktion mit der physikalischen Welt fehlt, dennoch als technisch angesehen werden kann, sofern seine Ausgabe bei bestimmungsgemäßer Verwendung ein technisches Problem löst. Ein diagnostisches Verfahren, das auf der Eingabeseite keine Interaktion mit der physikalischen Welt vorsieht, mag zutreffend als Verfahren eingestuft werden, das weder ein direktes noch ein indirektes Messverfahren darstellt oder umfasst. Die Beurteilung seines technischen Charakters erfordert jedoch – im Lichte von G 1/19 – eine weitergehende Prüfung, nämlich ob die Ausgabe bei bestimmungsgemäßer Verwendung potenzielle weitere technische Wirkungen hat („potential further technical effects when put to its intended use“). Die Richtlinien G-II, 3.3 scheinen solche potenziellen weiteren technischen Wirkungen bei diagnostischen Verfahren implizit anzuerkennen. T 1741/22 hingegen tut dies nicht..

Hat die Kammer in T 1741/22 G 1/04 falsch ausgelegt?

Die Kammer in T 1741/22 betrachtete diagnostische Verfahren nicht als technisch und hielt daher die Richtlinien (G-II, 3.3) ausdrücklich für fehlerhaft. Zur Begründung ihrer Position berief sich die Kammer auf G 1/04, insbesondere auf die Gründe 5.3 und 6.3, und legte diese dahingehend aus, dass diagnostische Verfahren ohne vorausgehende technische Schritte keinen technischen Charakter besitzen. Diese Auslegung scheint jedoch im Lichte der Gesamtaussage von G 1/04 fragwürdig.

G 1/04 ist eine Entscheidung aus dem Jahr 2005, die sich mit der richtigen Auslegung der Begriffe „diagnostisches Verfahren“ und „am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen“ im Zusammenhang mit dem entsprechenden Patentierungsverbot nach dem EPÜ befasst. In Bezug auf den technischen Charakter diagnostischer Verfahren stellte G 1/04 fest, dass diagnostische Entscheidungen zu therapeutischen Zwecken als Teil der deduktiven Phase der human- oder veterinärmedizinischen Praxis als rein geistige Tätigkeiten anzusehen sind – es sei denn, es wird ein Gerät verwendet, das in der Lage ist, diagnostische Schlüsse zu ziehen. Laut Gründen 5.2 kann die deduktive Entscheidungsphase als Erfindung im Sinne des EPÜ gelten, wenn das Verfahren mittels eines Geräts durchgeführt wird.

Nur in den Fällen, in denen die deduktive Phase rein geistiger Natur ist (d. h. gemäß den Gründen 5.2, wenn die Entscheidungsfindung ausschließlich im menschlichen Geist und ohne Einbeziehung eines Geräts erfolgt), muss das Verfahren zusätzlich vorausgehende Schritte technischer Art umfassen, die mit der nichttechnischen Entscheidungsphase in einer Weise zusammenwirken, dass eine technische Wirkung erzielt wird.

Mit anderen Worten: Was die Technizität betrifft, scheint G 1/04 einen vergleichsweise großzügigen Ansatz zu verfolgen, wonach die Umsetzung eines diagnostischen Verfahrens auf einem Gerät bereits ausreichen kann, um den technischen Charakter zu begründen. Dieser Ansatz wurde jedoch inzwischen durch G 1/19 weiterentwickelt. Daher erscheint es zweifelhaft, ob G 1/04, Gründe 5.3, eine tragfähige Grundlage dafür bietet, in T 1741/22 den technischen Charakter des streitgegenständlichen Patents zu verneinen.

Im Lichte von G 1/19, Gründe 101, stellt sich für computerimplementierte diagnostische Verfahren, die weder auf der Eingabeseite mit der physischen Welt interagieren noch die Funktionsweise des Computers verändern, die entscheidende Frage, ob die erzeugte Ausgabe „bei bestimmungsgemäßer Verwendung potenzielle weitere technische Wirkungen hat“. Diese Frage wird in G 1/04 nicht behandelt.

Nach Ansicht des Autors besteht die typische Verwendung angezeigter Minimal- und Maximalwerte des Glukosespiegels darin, die glykämische Variabilität zu beurteilen und ggf. ein Behandlungsregime anzupassen und zu verbessern. Diese typische Verwendung dient offensichtlich technischen Zwecken, da Fortschritte in den Bereichen Medizin, Pharmazeutika, Diagnosegeräte und Software zur Unterstützung medizinischer Entscheidungen nach dem EPÜ allgemein als Teil der Technik angesehen werden. Zwar könnte man darüber diskutieren, ob eine weitere Präzisierung des beabsichtigten Verwendungszwecks der Ausgabe erforderlich ist, um auch untypische und nichttechnische Nutzungen (z. B. rein informative Zwecke, siehe G 1/19, Gründe 98) auszuschließen; zumindest scheint jedoch G 1/04 keine Grundlage dafür zu liefern, die Richtlinien G-II, 3.3 als falsch oder im Widerspruch zu G 1/04 anzusehen.

Diese Auffassung wird nicht nur durch die oben dargelegte Auslegung von G 1/04 gestützt, sondern auch durch die Tatsache, dass die Richtlinien seit 2019 Diagnosemethoden unter Einsatz automatisierter Systeme konsequent als potenziell technisch anerkannt haben – eine Haltung, die mit der restriktiven Interpretation in T 1741/22 nicht vereinbar ist. Bemerkenswert ist zudem, dass selbst in der im April 2025 veröffentlichten aktualisierten Fassung der EPA-Prüfungsrichtlinien G-II, 3.3 nicht in Reaktion auf T 1741/22 geändert wurde.

Dass eine Interaktion mit der physischen Welt keine zwingende Voraussetzung für die Technizität im Zusammenhang mit computerimplementierten diagnostischen oder therapeutischen Verfahren ist, zeigt sich auch in späterer Rechtsprechung: So hielt es T 1814/07 für unzulässig, medizinische Aspekte eines Anspruchs bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit medizinischer Systeme einfach auszuklammern. In T 533/09 wurde ein Anspruch auf eine Defibrillationsimpulsfolge als solche sowie ein Verfahren zu deren Erzeugung als technisch angesehen – und zwar auch ohne Bezugnahme auf einen Computer oder ein Gerät

Was bedeutet das für die Formulierung von Ansprüchen für Diagnosesoftware?

Trotz der Unsicherheiten durch T 1741/22 besteht kein Anlass, die grundsätzliche Anmeldestrategie zu ändern. Der Vergleich zwischen T 2681/16 und T 1741/22 scheint aber anzudeuten, dass die Chance, dass Technizität des Anspruchs bejaht wird, mit der Komplexität und Spezifität der im Anspruch beschriebenen Datenanalyse steigt. Sehr allgemein gehaltene oder technisch einfache Berechnungsverfahren bergen das Risiko, als nichttechnisch abgelehnt zu werden – mit der Folge, dass auch erfinderische Aspekte nicht mehr geprüft werden.

Die Gefahr liegt in der Art und Weise, wie Prüfer den etablierten „Comvik-Ansatz“ anwenden: Prima-facie nichttechnische Aspekte eines Anspruchs werden bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit oftmals ausgeklammert. Wird der technische Beitrag eines Anspruchsgegenstands nicht als hinreichend bedeutsam wahrgenommen, können sogar diagnostisch relevante Aspekte unberücksichtigt bleiben. Sobald ein Verfahren in seiner Gesamtheit als nichttechnisch eingestuft wurde, ist es äußerst schwierig, es nachträglich durch Hinzufügen von Details als erfinderisch zu qualifizieren.
Im Gegensatz dazu hat ein von Anfang an sorgfältig formulierter Anspruch – der eine nicht triviale Datenanalyse zu medizinischen Zwecken als technisch sinnvolle Tätigkeit darstellt und die Verwendung der Ergebnisse idealerweise auf klar technische bzw. diagnostische Zwecke beschränkt – deutlich bessere Chancen, zunächst als technisch anerkannt und anschließend ordnungsgemäß auf erfinderische Tätigkeit geprüft zu werden.
Sorgfältige Anspruchsformulierung ist daher nicht nur eine Frage der Erfüllung formaler Anforderungen, sondern auch in strategischer Hinsicht wichtig, um sicherzustellen, dass die Erfindung nicht als abstrakte oder rein intellektuelle Übung missverstanden wird und dass die diagnostische Relevanz der ausgegebenen Ergebnisse auf Anhieb erkennbar ist. Die Vermeidung generischer oder vereinfachender Anspruchsformulierungen kann im Prüfungsverfahren den entscheidenden Unterschied ausmachen

Bleibt T 1741/22 bestehen?

Die Begründung in T 1741/22 steht in klarem Widerspruch sowohl zu den EPA-Prüfungsrichtlinien als auch zu früheren Entscheidungen. Es ist daher wahrscheinlich, dass T 1741/22 ein Einzelfall bleiben wird – es sei denn, andere Kammern schließen sich dieser Ansicht an oder die Große Beschwerdekammer wird zur Klärung angerufen. Bis dahin sollten Anmelder vorsichtig sein, wenn sie sich hinsichtlich der Technizität ausschließlich auf die technische Wirkung der Ergebnisse stützen, und sollten in ihren Anspruchsformulierungen allzu generische mathematische Verarbeitungsschritte vermeiden.

Wir werden die weiteren Entwicklungen genau beobachten und unsere Ausarbeitungsstrategien bei Bedarf anpassen. Für den Moment gilt: Diagnostische Ergebnisse sind nach wie vor relevant – doch ihre diagnostische und damit technische Bedeutung über den gesamten Anspruchsumfang hinweg muss auf Anhieb erkennbar sein.

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Autor: Dr. Thorsten Barnickel